Die Sache mit dem Alter
Selbstermächtigung vs. Selbstsabotage
Ich erlebe beim Studium von Bewerbungsunterlagen ab und an, dass das Geburtsdatum nicht aufgeführt ist. Entweder, so scheint es, wurde es absichtlich «vergessen» – insbesondere falls die oder der Kandidierende älter als 55 jährig ist. Oder das Geburtsdatum steht verschämt zu unterst in der Ecke, in der Hoffnung, dass es niemand bemerken möge. Das erweckt unweigerlich den Eindruck, dass etwas verheimlicht werden soll, weil es unvorteilhaft erscheint. Fast so, als ob ein reich bestückter Werdegang und der dadurch bestens gefüllte Erfahrungsrucksack durch das Geburtsdatum entwertet würden – sinnbildlich für einen dicken roten «ZU ALT» Stempel.
Es ist mir bekannt, dass in anderen Ländern, insbesondere im angelsächsischen Raum, weder ein Photo noch das Geburtsdatum auf dem Lebenslauf gebräuchlich sind, um eben nicht voreilig bewertet zu werden, oder zu riskieren, dass die Bewerbung sogleich aussortiert wird. Ich finde diese Vorgehensweise irritierend und wenig zielführend. Schliesslich geht es bei der Rekrutierung darum, einen guten «Match» zu finden – erhöhen sich da tatsächlich meine Chancen als Bewerberin, wenn ich Photo und Geburtsdatum weglasse? Wirklich?
«Wie stehen da meine Chancen, mich mit 56 noch für eine neue Stelle zu bewerben?» Fast scheint mir, die Kandidatin würde den Kopf etwas einziehen, als ob sie meine Antwort fürchtete.
Im Zuge einer – etwas fadenscheinigen – «Reorganisation» wurde ihre Position nach 18 Jahren im Unternehmen abgebaut. Verständlich, dass sie verunsichert ist, noch verständlicher, dass dies Ängste schürt, und noch viel verständlicher, dass das eigene Alter hier als grosse Hürde für den nächsten Schritt im Werdegang wahrgenommen, wird. Bis zum Ruhestand dauert es schliesslich noch ein Weilchen. Abgestempelt?
Mal ehrlich: wer stempelt denn hier wen zuerst ab? Ist es nicht so, dass wir manchmal vermeintliche Realitäten vorweg nehmen, ohne handfeste Beweise? Möglicherweise kommen sie uns bisweilen – Hand aufs Herz- auch ganz gelegen, wenn wieder eine Absage erteilt wird, wenn man wieder nicht in die nächste Gesprächsrunde eingeladen wurde – als Begründung, Rechtfertigung vor sich selbst. Ich will damit keineswegs sagen, dass die Vorbehalte bezüglich des eigenen Alters völlig aus der Luft gegriffen sind. Oftmals aber entsprechen sie einem Bild aus vergangenen Zeiten, als «50+» eben tatsächlich bereits recht «alt» war.
Erfreulicherweise haben sich die Zeiten geändert; das neue 50+ steht zunehmend für eine begehrte, weil erfahrene, Zielgruppe, deren Expertise und Seniorität erkannt, geschätzt und gesucht ist. Und für die auch bezahlt wird. Diese neue Realität will und soll genutzt werden! Der Stolperstein dabei ist leider häufig die Selbstsabotage, das bereitwillige «sich-selbst-abstempeln». Zu alt.
Kürzlich hatte ich einen Kandidaten im Gespräch, der 57-jährig, am liebsten nochmals einen Karrierewechsel in Angriff nehmen wollte. Er hatte sich jedoch bereits selbst auf dem Dachboden abgestellt. Zu alt. «In meinem Alter nochmals einen Quereinstieg? Das ist doch unrealistisch.» war er überzeugt. Er hätte aber auch sagen können: «Mit meinen über dreissig Jahren Berufserfahrung und Expertise in meinem Fachbereich habe ich einen entscheidenden Vorteil, und beste Voraussetzungen, um mich nochmals in einen neuen Bereich einzuarbeiten. Das will ich unbedingt angehen!»
Die Perspektive ist dabei entscheidend. Ja, das braucht Mut. Aber auch eine objektive Selbsteinschätzung und Respekt vor der erbrachten Leistung auf dem bisherigen Berufsweg. Ich spreche hier nicht von unrealistischen, übermütigen Fehleinschätzungen, und nein, es ist nicht immer
alles möglich. Aber es ist, fast immer, weitaus mehr möglich als wir manchmal denken. Oder bereit sind zu denken.
Ich ermutige alle Berufserfahrenen, insbesondere in der Zielgruppe 50+, sich nicht selbst ins Abseits zu manövrieren. Werfen Sie einen Blick über die Schulter und freuen Sie sich über den Weg, den Sie bereits gegangen sind. Ihre Erfahrung und Expertise ist möglicherweise genau das, was Ihre zukünftige Arbeitgeberin sucht. Erlauben Sie sich in jedem Alter, die Idealbesetzung, der perfekte «Match» zu sein!